Das Quartier Unterstrass und die Weinbergstrasse 93

Bau und gewerbliche Nutzung des Häuserblocks Weinbergstrasse 91/93/95 und Kurvenstrasse 10–18

Mark Wüst, 12. Sept. 2010

Das Quartier Unterstrass hat seinen Namen von der „Unteren Strasse“, einer wichtigen Verbindung, die vom Niederdorftor beim Central über die heutige Stampfenbach-, Beckenhof- und Schaffhauserstrasse gegen Norden führte. Unterstrass verfügte über keinen eigentlichen Dorfkern, seine Häuser lagen entlang der Landstrasse und verstreut im Gemeindegebiet. Im Jahr 1805 errichtete der Unternehmer Caspar Escher in der „Neumühle“ beim Central eine mechanische Spinnerei, aus der sich entlang der Limmat bis zum Drahtschmidli die Werkanlagen der Maschinenfabrik Escher-Wyss & Co. entwickelten. 1895 wurden die Fabrikbauten ins Industriequartier verlegt. Hangaufwärts entstanden einfache Häuser für die Arbeiterbevölkerung. Unterstrasse war im 19. Jahrhundert eine eher ärmliche Gemeinde mit einer Bevölkerung aus Arbeiter- und einfachen Handwerkerfamilien. 1878 erstellte die Gemeinde Unterstrasse die Weinbergstrasse, eine zweite Hauptverbindung zwischen Stadt und den äusseren Quartieren beim heutigen Schaffhauserplatz. Auf städtischem Gebiet fand diese Strasse anfänglich keine direkte Fortsetzung, sondern mündete in einem Bogen in die Stampfenbachstrasse. Der direkte Durchbruch zum Central erfolge erst 1896. In den 1880er-Jahren und vor allem mit der Eingemeindung von 1893 setzte eine rege Bautätigkeit ein. Baulich verschmolz das ehemalige Dorf Unterstrass mit der Altstadt. Neue Wohnhäuser rückten immer höher den Hang hinauf und Richtung Norden vor. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Landparzellen entlang der Weinbergstrasse weitgehend mit Villen und Mehrfamilienhäusern überbaut.

Weinbergstrasse um 1904. Bis auf das Haus mit Giebeldach charakterisieren alle diese Gebäude noch heute den Strassenzug. (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Der Häuserblock zwischen Weinberg- und Kurvenstrasse mit der Liegenschaft der Bäckerei Stocker wurde zwischen 1894 und 1896 von Schreinermeister Hermann Geyer errichtet. 1894/95 liess er die Gebäudezeile Weinbergstrasse 91/93/95 bauen. Die Häuser verfügen je über vier Stockwerke mit Dachgeschoss und über drei in den Hang eingelassene Untergeschosse. 1895/96 folgten an der Kurvenstrasse die Häuser mit den Nummern 10, 12, 16 und 18. Einzig das Doppelwohnhaus Kurvenstrasse 14 wurde ein Jahr später von einem anderen Eigentümer errichtet. Die Bauten an der Kurvenstrasse zählen ebenso viele Stockwerke wie jene an der Weinbergstrasse, haben jedoch eine geringere Gebäudetiefe. Die Häuser umschliessen einen kleinen Hof, der mit einer Zufahrt durch Haus Kurvenstrasse 16 erschlossen wird.

Illustrierte Aussenansicht des Ladens an der Weinbergstrasse mit zahlreichen Werbeschildern aus Email, um 1925.

Schon beim Bau der Häuser an der Weinbergstrasse waren deren Erd- und Untergeschosse für eine gewerbliche Nutzung vorgesehen, denn alle drei Häuser erhielten einen Warenlift. Laut Grundbucheintrag vom 15. Nov. 1893 durfte in diesen Liegenschaften zwar keine „Dampfkamine“ errichtet, jedoch „Werkstätten, Metzgereien, Verkaufslokale, Restaurationen etc.“ betrieben werden. Die oberen Stockwerke dienten Wohnzwecken.

Im Eckhaus Nr. 95 befand sich die Metzgerei von Friedrich Ernst, die über einen Fleischaufzug verfügte. Ab 1907 betrieb der aus Büron/LU stammende Alfred Wyss die Metzgerei mit Charcuterie. Nach dessen Tod verkauften die Erben das Haus 1958 an Metzgermeister Emil Graf, der das Geschäft bis um 1970 weiter führte. Die Metzgerei an der Weinbergstrasse 95 blieb danach noch einige Jahre als Filialbetrieb erhalten, bis sie um 1975 einer anderen Nutzung Platz machte. Zu Haus Nr. 95 gehörte stets das hinten angebaute, zweistöckige Gebäude Kurvenstrasse 18.

Teigteil-, Knet-, Rühr- und Mandelreibmaschine, betrieben durch eine elektrische Transmissionsanlage (Katalog und Fest-Führer 1913).

Das benachbarte Haus Nr. 93 blickt auf eine noch längere Tradition als Gewerbestandort zurück. Ohne Unterbruch beherbergt es seit seiner Errichtung eine Bäckerei. Zwischen 1895 und 1904 betrieb Jakob Frick im Untergeschoss eine Backstube, während er sein Brot an der Zürichbergstrasse 69 verkaufte. Ein Delikatessengeschäft und eine Seidenhandlung belegten damals das Erdgeschoss. 1904 kaufte Bäckermeister Emil Stocker die Liegenschaft, übernahm die Backstube und richtete im Parterre ein Ladengeschäft und eine Wohnung für seine Familie ein. Stocker nutzte in den folgenden Jahrzehnten das 1. Untergeschoss weiterhin als Backstube und als Lokal für die Herstellung von Konditoreiwaren. Eine Etage tiefer befanden sich mehrere Zimmer und sanitäre Einrichtungen für die Angestellten, die im Hause wohnten. Das dritte Untergeschoss mit Zugang zum Hof beherbergte eine Garage mit Benzintank und Zapfsäule sowie Lagerräume für Brennmaterial, Nahrungsmittel und für die Vorfenster. Ein Warenlift verband das 1. UG mit dem Ladenlokal und dem 1. OG. Heute betreibt Urs Stocker das Unternehmen mit mittlerweile drei städtischen Filialen in vierter Generation.

Die gewerbliche Nutzung des Eckhauses Weinbergstrasse 91 kann nur teilweise rekonstruiert werden. Anfänglich befand sich dort eine Wirtschaft mit eingebautem „Speiseaufzug“. Wohl in den 1930er-Jahren mietete sich ein Laden mit Kolonialwaren ein, der um 1960 wieder auszog. Die Untergeschosse wurden teils für Wohnzwecke, teils als Lager- und Gewerberaum genutzt. Ebenerdig zum Hof befand sich eine Werkstatt. Zwischen etwa 1960 und 1975 arbeitete dort Heinrich Leutenegger, der ein Geschäft für Sanitärinstallationen betrieb.

Das Stammhaus der Bäckerei Conditorei Stocker an der gut erreichbaren Weinbergstrasse 93 mit eigenen Kundenparkplätzen ist gut ins Quartier eingebettet und erfreut sich langjähriger Kundschaft. Seit 1904 verfügt die Quartierbäckerei über eine eigene Backstube, die heute – nach zahlreichen Modernisierungen – immer noch täglich in Betrieb ist.

Die Bauten an der Kurvenstrasse dienten wohl weitgehend zum Wohnen. Nachweislich befand sich in den Häusern Nr. 16 und 18 vom Beginn des Jahrhunderts an bis in die frühen 50er-Jahre eine kleine Spedition für „künstliche“ Mineralwasser und Limonaden, um 1950 dann für Kohlen. Ernst Schaber, der Inhaber des Unternehmens, beliefert seine Kunden gemäss den Aussagen eines Zeitzeugen mit Ross und Wagen, wobei er sein Fuhrwerk jeweils im Hof belud. Auch die Zulieferung von Rohmaterialien für die Bäckerei-Konditorei Stocker erfolgte teilweise über den Hof. Noch in den 70er-Jahren fuhr dort die Mühle Wehrli (Tiefenbrunnen) mit Ross und Wagen vor, um im Auftrag der ZÜBA (Einkaufsgenossenschaft der Zürcher und Basler Bäcker und Konditoren) Zucker, Nüsse, Schokolade, Sultaninen u. a. m. zuzustellen. Der Hof gehört anteilmässig den umliegenden Hausbesitzern, die alle auch über ein Wegrecht verfügen.

Quellen und Literatur:

  • Adressbücher der Stadt Zürich
  • Brandversicherungsbücher der Stadt Zürich (Stadtarchiv)
  • Stadtpläne (Baugeschichtliches Archiv Zürich)
  • Grundbucheinträge Haus Weinbergstrasse 93 (Archiv Urs Stocker)
  • Mündliche Mitteilungen von Werner Stocker (*1923) und Urs Stocker (*1951)
  • INSA. Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920, Bd. 10 Winterthur, Zürich, Zug, hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, 1992
  • Baukultur in Zürich. Unterstrass, Wipkingen, Höngg, hrsg. vom Hochbauamt der Stadt Zürich, 2009
  • Wüst, Mark, 100 Jahre Bäckerei Conditorei Stocker. 1904 bis 2004 – Ein Familienbetrieb mit Tradition, hrsg. von Urs Stocker, Zürich 2004